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RUBICON KÖLN

STIGAMITISIERUNG VERÜBT DEN GRÖSSTEN DRUCK

Interview mit Diplom-Pädagogen/-Sozialarbeiter Aleksej Urev

Das Beratungszentrum „Rubicon“ unterstützt lesbische, schwule, bisexuelle, trans* und queer orientierte Menschen (LSBTQ), ihre Familien und Wahlfamilien darin, selbstbewusst und angstfrei zu leben und zu lieben.

 

Bei Ihrer Arbeit Verwendet das Rubicon Team zweierlei Definitionen von häuslicher Gewalt. Einerseits berücksichtigen sie die Ausübung von Gewalt in physischer, psychischer, sexualisierter und digitalisierter Gewalt in Paar- oder Mehrfachbeziehungen und andererseits gesellschaftliche Dimensionen.

 

Der Rubicon nach gibt es einige Unterschiede in der Form häuslicher Gewalt von heterosexuellen im Gegensatz zu homosexuellen Paaren,vor allem in Rollenverteilung des Opfer-Täter Gefüges, aber nicht in der Häufigkeit.

Gründe dafür sein meist die fehlende sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität.

 

Komplettes Interview

Sprich Dich Aus: Wie Definieren Sie häusliche Gewalt?

 

Herr Urev: Mit diesem Begriff werden Formen von Gewalt in einer Paar- oder Mehrfachbeziehung beschrieben. Die Ausübung von Gewalt kann sowohl physisch, sexualisiert oder psychisch erfolgen. Zwang und Kontrolle sind ebenfalls Bestandteile von Gewalt. Soziale Netzwerke werden für die Ausübung von digitaler Gewalt genutzt. Dort, wo die sexuelle Orientierung oder die Geschlechtsidentität zu tragen kommt, werden unter dem Begriff der häuslichen Gewalt auch Übergriffe durch die Herkunftsfamilie gefasst.

Eine erweiterte Definition von häuslicher Gewalt berücksichtigt gesellschaftliche Dimension. Diese beiden Definitionen benutzen wir in unserer Arbeit. Die Ausführung zur gesellschaftlichen Dimension finden sie auf der Seite 7 der Broschüre „UnSichtbar!?“

 

Sprich Dich Aus: Welche Faktoren berücksichtigen Sie dabei?

 

Herr Urev: Lesben und Schwule sind in dreierlei Hinsicht von häuslicher Gewalt betroffen:

 

Sie erleben häusliche Gewalt durch ihre (Ex-) Partner, insbesondere während des Coming-out und/ oder während der Trennung vom Partner/ der Partnerin. Hier sind lesbische Frauen von psychischer und physischer Gewalt im Geschlechterverhältnis und von homophober Gewalt betroffen (Mehrdimensionale Gewalt). Bei schwulen Männern besteht die Ausübung von Gewalt häufig in einer Stigmatisierung der neuen schwulen Identität und/oder der Ausübung von psychischem Druck z.B. in Bezug auf den sozialen Status der Familie oder auf die Ausübung der Vaterschaft.

 

Die häusliche Gewalt findet während oder nach einer lesbischen oder schwulen Paarbeziehung statt.

 

Die Gewalt wird - häufig im Rahmen des Coming-out - durch die Herkunftsfamilie ausgeübt. Dies kann sowohl im Jugendalter als auch noch bei erwachsenen Töchtern oder Söhnen der Fall sein. Sie äußert sich in verbaler, psychischer und körperlicher Gewalt.

 

Sprich Dich Aus: Geschehen Gewalttagen in homosexuellen Beziehungen häufiger? Wenn ja, gibt es dafür eine Erklärung?

 

Herr Urev: Nein.Experten gehen aber davon aus, dass die Häufigkeit von häuslicher Gewalt in gleichgeschlechtlichen Beziehungen in etwa der Häufigkeit von Gewalt in gegengeschlechtlichen Partnerschaften entspricht. Erkenntnisse über Gewalt in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften gibt es über eine Vielzahl von quantitativen und qualitativen Studien sowie über die Dokumentation von Gewaltfällen.

 

Sprich Dich Aus: Gehen homosexuelle Paare auch gewalttätig auf ihre Kinder ein? Wenn ja, unterscheidet es sich von heterosexuellen Paaren?

 

Herr Urev: Dazu liegen mir keine Erkenntnisse vor.

 

Sprich Dich Aus: Gibt es Schutzeinrichtungen für Homosexuelle also so etwas wie z.B. die Frauenhäuser?

 

Herr Urev: Für lesbische und bisexuelle Frauen kommen Frauenhäuser als Schutzeinrichtung in Frage. Für Männer gibt es keine Schutzeinrichtungen. Es gibt keine speziellen Schutzeinrichtungen für Homosexuelle. In Berlin ist ein Heim für LSBTTI* Flüchtlinge geplant.

 

Sprich Dich Aus: Gibt es Studien über häusliche Gewalt bei homosexuellen Paaren? Wenn ja, was sagen diese aus?

 

Herr Urev: Repräsentative Untersuchungen zu häuslicher Gewalt in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften gibt es nicht. Dies liegt zum einen daran, dass die Anzahl der Lesben und Schwulen in Deutschland und anderen Ländern nur geschätzt (5 -10% der Bevölkerung) werden kann. Zum anderen werden Lesben und Schwule durch große repräsentative Befragungen aufgrund der oft Nichtberücksichtigung von Homosexualität als Erhebungsmerkmal überwiegend nicht erreicht.

 

Sprich Dich Aus: Gibt es eine bestimmte Art von Gewalt in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften?

 

Herr Urev: In der Auseinandersetzung mit den Formen der Gewalt in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften sind Berater und Therapeuten häufig mit (ihren eigenen) Geschlechtsrollenstereotypen konfrontiert, aber auch mit Idealvorstellungen insbesondere von lesbischen Partnerschaften. In der Praxis manches Gewaltfalles erweist sich jedoch das Bild der friedfertigen und zur wirklichen Gewalt unfähigen lesbischen Frau als Trugschluss, ebenso wie die Annahme, dass Gewalt in schwulen Partnerschaften überwiegend in körperlicher Gewalt besteht. Die Auswertung von Gewaltfällen zeigt, dass alle Formen der psychischen, physischen und sexualisierten Gewalt in lesbischen und schwulen Partnerschaften möglich sind.

 

Tatsächlich nur in gleichgeschlechtlichen Beziehungen tritt die Drohung auf, die Partnerin oder den Partner z.B. beim katholischen Arbeitgeber zu outen.

 

Das Wissen über Missbrauchs- und Gewalterfahrungen der Partnerin zu nutzen oder eigene Gewalterfahrungen als Druckmittel einzusetzen, um die Partnerin zu erpressen, sind Beispiele für eine spezifische Form der Gewalt in einer lesbischen Partnerschaft. Eine besondere Vulnerabilität [Verletzbarkeit] für häusliche Gewalt von HIV-positiven Männern wurde in den USA erforscht.

 

Sprich Dich Aus: Wie sieht denn mit Gewaltdynamiken in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften aus?

 

Herr Urev: Aufbauend auf Forschung aus den USA hat Constance Ohms in Deutschland Gewaltdynamiken in lesbischen Partnerschaften erforscht.

 

Ein Ergebnis dieser Forschung ist, dass Gewaltdynamiken bei häuslicher Gewalt in lesbischen Partnerschaften von einer größeren Rollenvielfalt geprägt sind. Neben sogenannten mono-direktionalen Gewaltdynamiken mit einer klassischen Opfer-Täterin-Struktur, beschreibt Constance Ohms bi-direktionale Gewaltdynamiken, in denen beide Partnerinnen aktiv zu einer Eskalation der Gewalt in der Partnerschaft beitragen und als Täterin agieren.

 

Als ein wichtiges Kriterium für eine mono-direktionale Gewaltdynamik hat Constance Ohms die ständige Angst der Gewalt erleidenden Partnerin vor dem nächsten Übergriff benannt. In der bi-direktionalen Gewaltdynamik tritt diese Angst bei beiden Partnerinnen nur temporär auf.

 

Wichtig zur Unterscheidung der beiden Gewaltdynamiken ist die Tatsache, ob eine Partnerin sich gegen einen Übergriff zur Wehr setzt, also auf eine Gewaltausübung ihrer Partnerin reagiert, oder ob sie aktiv durch die Ausübung von Gewalt versucht, selbst Macht und Kontrolle über die Partnerin zu gewinnen.

 

Aufgrund von Erfahrungen aus der Beratungspraxis kann auch bei schwulen Männern von einer größeren Rollenvielfalt ausgegangen werden.

 

Der Annahme, dass aufgrund des gleichen Geschlechtes in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften per se ein Machtgleichgewicht herrscht und deshalb Gewalt überwiegend „gegenseitig“ ausgeübt wird, ist jedoch eine Absage zu erteilen. Die spezifisch lesbisch-schwulen Formen von Gewaltausübung zeigen, dass es eine Vielzahl von potentiellen Machtfaktoren gibt, die sich eine Täterin oder ein Täter zunutze machen kann, um Macht und Kontrolle in der Partnerschaft auszuüben. Neben den obigen Beispielen sind mögliche Machtfaktoren Alter, Einkommen, Herkunft, rechtlicher und sozialer Status, aber auch psychische Faktoren wie ein geringes Selbstwertgefühl einer Partnerin/ eines Partners aufgrund einer fehlenden stabilen homosexuellen Identität (innere Homophobie).

 

Sprich Dich Aus: Gibt es in der Form der Gewalt Unterschiede zu heterosexuellen Paaren?

 

Herr Urev: In ihrer Forschung zu lesbischen Täterinnen hat Constance Ohms im Hinblick auf Persönlichkeitsmerkmale und individuelle Strategien im Umgang mit der verübten Gewalt kaum Unterschiede zwischen lesbischen Täterinnen und heterosexuellen Tätern festgestellt. Ähnlich wie heterosexuelle männliche Täter weisen viele lesbische Täterinnen Gewalterfahrungen in der Lebensgeschichte auf. Im Umgang mit der verübten Gewalt verleugnen sie nach einer Phase mit Schuld- und Schamgefühlen die Verantwortung für das eigene Tun.

 

Da lesbische Opfer von häuslicher Gewalt ebenfalls häufig Gewalterfahrungen in der Lebensgeschichte als Risikofaktor aufweisen, bleibt zukünftig zu erforschen, wodurch sich bei der einzelnen Frau eher die Täterinnen- oder die Opferrolle herausbildet.

 

Da lesbische Opfer von häuslicher Gewalt ebenfalls häufig Gewalterfahrungen in der Lebensgeschichte als Risikofaktor aufweisen, bleibt zukünftig zu erforschen, wodurch sich bei der einzelnen Frau eher die Täterinnen- oder die Opferrolle herausbildet.

 

Zu Tätern und Opfern in schwulen Partnerschaften existiert bisher keine Forschung, abgesehen von einer Studie zu sexualisierter Gewalt, die von Männern an Männern ausgeübt wird. Auch hier sind eigene Gewalterfahrungen ein Risikofaktor sowohl für die Gewalterfahrung als auch die –ausübung.

 

Der größte Unterschied zwischen häuslicher Gewalt in heterosexuellen und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften besteht in der Art, wie gesellschaftliche Faktoren auf die Beziehung und mögliche Gewaltdynamiken einwirken und welchen besonderen Herausforderungen lesbische Frauen und schwule Männer gegenüber stehen, wenn sie ihre Gewaltbeziehungen verlassen wollen.

 

Die Isolation, in die Opfer von häuslicher Gewalt mit Fortschreiten des Gewaltkreislaufes geraten, ist mittlerweile hinreichend bekannt. Für lesbische und schwule Gewaltopfer verstärkt sich diese Isolation häufig durch erlebte oder befürchtete Diskriminierung in ihrem sozialen Umfeld von der Familie bis zum Arbeitsplatz.

 

Über die Hälfte der Lesben und Schwulen outet sich aus Angst vor Diskriminierung nicht am Arbeitsplatz. Nur etwa ein Viertel der befragten Lesben und Schwulen der Online-Befragung „Out im Office?!“ hat am Arbeitsplatz keine Diskriminierungserfahrungen gemacht.

 

Laut der Münchner Studie „Unterm Regenbogen“ haben 57 % der befragten Lesben und 60 % der schwulen Männer schon einmal große Angst gehabt als lesbisch oder schwul erkannt zu werden, über 80 % haben Gewalterfahrungen wie verbale Angriffe (60 %), Einschüchterung/ Psychoterror/ Bedrohung (40 %) und physische Gewalt (12 % der Frauen und 21 % der Männer) bereits erlebt.

 

Dies verleiht der Partnerschaft als diskriminierungsfreien und geschützten Innenraum eine besondere Bedeutung. Wenn sich diese Hoffnung nicht erfüllt, sondern in ihr Gegenteil verkehrt, verletzt und demoralisiert dies in besonderem Maße. Gleichzeitig verstärkt die Wahrnehmung der Außenwelt als abwertend und „feindlich“ die Tendenz, Gewalt durch die Partnerin oder den Partner zu bagatellisieren und die Partnerschaft als Ganzes in Schutz zu nehmen.

 

Dies ist ein Mechanismus, der lesbischen und schwulen Gewaltopfern auch häufig in der ebenfalls als Schutzraum wahrgenommenen „Szene“ begegnet. Auch hier kommt es zur Bagatellisierung der Gewalt oder sogar zu Parteinahme mit der Täterin oder dem Täter. Gewalt in lesbischen und schwulen Partnerschaften berührt hier kollektiv das Tabu der möglichen Täterschaft von Frauen und dem Opferstatus von Männern. Darüber hinaus gibt es Widerstände anzuerkennen, dass Lesben und Schwule als soziale Minderheit von denselben gewalttätigen Beziehungsmustern betroffen sind wie die diskriminierende und heteronormative Gesellschaft.

 

 

* LSBTTIQ = Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle, Transgender, Intersexuelle und Queere Menschen

Sprich Dich Aus 2015, Dortmund

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